Von Kalkutta in die Welt – Verlegen lernen bei Seagull Books

German List
Bücher der German List von Seagull Books

In der S.P. Mukherjee Road in Kalkutta schlägt das literarische Herz dieser Stadt. Der Verlag und Buchladen Seagull Books ist eine Oase inmitten des indisch-urbanen Chaos’. Kunstvoll ist alles, was von diesem Verlag in die Welt entlassen wird. Das sind in erster Linie Bücher über Theater, Bildende Künste, alternatives Kino, Philosophie, Kultur und auch Belletristik, die als eigene Kunstwerke gelten können, so schön sind sie gestaltet, gesetzt und gedruckt.

Wie das Handwerk des Büchermachens in Kalkutta seit 1982 von Verleger Naveen Kishore und seinem fünfköpfigen Team verstanden wird, durfte ich in einem dreimonatigen Kurs erleben. Mit der kurz nach Gründung des Verlages entstandenen Initiative The Seagull Foundation for the Arts unterstützt und fördert Kishore die schönen Künste, Theater und Film in Indien mit dem Selbstverständnis eines Mäzens und Verlegers alter Schule. Aus der Kollaboration dieser Initiative und der Königlich Norwegischen Botschaft ist 2012 die Seagull School of Publishing entstanden, die eine kurze und intensive Ausbildung für angehende Lektoren und Buchdesigner ermöglicht. In zwei Zeiträumen pro Jahr – Januar bis März und Juni bis August – kann man die Kunst des Verlegens von der Pike auf lernen, und das bei einem unabhängigen Verlag, der durch Sitze in London und New York seit 2005 seine Bücher weltweit vertreibt.

Mit 18 anderen Studierenden begab ich mich im Juni auf die Reise durch die Gefilde des Verlegens, angefangen von der Idee zu einem Buch, den oft schwierigen Weg zu einem Verlagshaus, das Aufsetzen eines Vertrages, die Bearbeitung des Manuskriptes, Inhalts- und Covergestaltung, bis hin zu Vertrieb und dem Veräußern der Rechte. Wie bildet man eine Liste, wie pflegt man die Backlist, wie verwaltet und was lernt man aus Gewinn- und Verlust-Tabellen?

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Wir Lektoren mit unserer „Bibel“ – dem Oxford Manual of Style

Nach eineinhalb Wochen gemeinsamen Unterrichts fokussierte sich meine Editing-Gruppe auf die Bearbeitung der Manuskripte. Die Designer lernten den Umgang mit Quarkexpress und Photoshop, während wir uns die längst begrabenen Regeln zu Zeichensetzung, Grammatik und Rechtschreibung in Erinnerung riefen – alles natürlich auf Englisch. Das brüten über fehlerhaften akademischen Texten zur zeitgenössischen Kunst in China machte viel Spaß, weniger dagegen die trockene Theorie der Bibliographie- und Indexerstellung. Ende Juni schließlich fand die erste „Masterclass“ mit Verleger Naveen Kishore selbst statt, der uns anhand seiner eigenen Geschichte in die Geheimnisse des Verlegens eingeweihte. So geheimnisvoll oder schwierig, wie wir es uns vorstellten, ist es aus seiner Sicht gar nicht; vielmehr ein Ergebnis aus Zufällen und Freundschaften, aus der das Projekt Seagull Books entstanden ist. Vom Theater kommend fing Naveen einfach irgendwann an Dramen und theoretische Texte zu Kunst und Kultur mit finanzieller Unterstützung beispielsweise des Goethe Instituts zu veröffentlichen und gründete zu diesem Zweck einen eigenen Verlag. Das war in den Siebzigern. Gleich zu Beginn besuchte er regelmäßig die Frankfurter Buchmesse, um deutschen Verlagen die Rechte für den Indischen Markt abzunehmen – um sie zu kaufen hatte er kein Geld. So entstand die intensive und langjährige Freundschaft zu Verlagen wie Suhrkamp und dem französischen Verlagshaus Gallimard. Die eindrucksvolle German List mit Namen wie Jurek Becker, Hans Magnus Enzensberger und Sibylle Lewitscharoff bezeugt diese fruchtbare Verbindung.

Vielleicht ist das ein Geheimnis oder Erfolgsrezept für beide, Verleger und Autoren: die enge, freundschaftliche Beziehung, die Naveen zu seinen „Schützlingen“ führt. „Ich bin ein großer Briefschreiber und glaube fest an die Wichtigkeit der persönlichen Beziehung zwischen Verleger und Autor“ so Kishore. Auszüge dieser Korrespondenzen sind in dem prachtvoll gestalteten Katalog zu finden, der jährlich anlässlich der Frankfurter Buchmesse aufwendig hergestellt wird. Dieses „Buch der Bücher“ ist so einzigartig in der Verlagswelt, dass es ein Aushängeschild des besonderen Kunstverständnisses dieses Verlages ist und ihm zu Weltruhm verholfen hat. Wie Kostbarkeiten werden sie innerhalb der Verlagsszene bewundert und herumgezeigt und inzwischen finden sich in jedem gut sortierten Buchladen in allen Teilen der Welt die Bücher aus Kalkutta. img_7381

Nach seinem Vorgehen bei der Auswahl der Autoren, des Zusammenstellens einer Liste und des Zielpublikums gefragt, antwortet Naveen: „Ich bin das Zielpublikum“. Seagull ist ein sehr unkapitalistisch denkender Verlag, der Bücher verlegt, von denen sie persönlich der Meinung sind, sie sollten gelesen werden. Der Erfolg, auch der wirtschaftliche, kam mit der Zeit. Literaturnobelpreisträger Mo Yan fand seinen Platz zunächst bei Seagull Books, bevor der Rest der Welt auf ihn aufmerksam wurde.

Weiter ging es im Juli mit Übungen, bei denen wir alles Gelernte mit den richtigen Korrekturzeichen und dem Oxford Manual of Style neben uns liegend anwenden konnten – und das an Texten, die vom Verlag selbst verlegt wurden. Unterrichtet wurde meine Editing Klasse hauptsächlich von Lektor Bishan Samaddar. Wie jeder Mitarbeiter von Seagull Books, hat auch Bishan eine künstlerische Seele und seine Fotographien wurden bereits ausgestellt, mit Texten von Roland Barthes veröffentlicht oder als Grundlage von Sunandini Banerjees Cover Designs verwendet. Sunandini ist beides, Senior Editor und Senior Graphic Designer und entführte hauptsächlich die Design Klasse in die wunderbare Welt des Buchdesign und Typesetting. Sie illustriert Bücher, gestaltet den Katalog und ist mit ihrem collagenartigen Stil eine Quelle der Inspiration und eine Botschafterin der Buchkunst.

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Die Schule selbst, vier Klassenräume in einem alten Haus Bengalischen Stils auf der anderen Straßenseite des Verlages, ist für alle Schüler sofort beim ersten Betreten ein Lieblingsort in Kalkutta geworden. Jedes Zimmer ist in einer anderen Farbe gestrichen, sehr bunt, bis unter die Decke behängt mit Sunandini’s Collagen und Fotographien von Bishan und Naveen; Regalmeter voller Bücher des Verlages, aber auch Teile der ehemaligen Bibliothek des Goethe Instituts inklusive Schallplattensammlung, denen Naveen in diesen Räumen nach deren Auflösung Unterschlupf gewährt hat. Eine Atmosphäre, wie sie inspirierender und anregender nicht sein kann, und so wurden an den großen Tischen bei Kaffee und Keksen bisweilen recht philosophische Gespräche geführt.

Kalkutta ist eine Stadt, die von Geschichte, Kultur und Kreativität strotzt. Obwohl nahezu alle anderen Verlage, Redaktionen großer Zeitungen und intellektuelle Größen ihren Sitz in der Hauptstadt Delhi haben, hat man bei Seagull Books nie ans Umziehen gedacht. Auch nicht ans Verkaufen der attraktiven Listen oder gar des ganzen Unternehmens. Der Verlag und die Mitarbeiter sind hier verwurzelt und brauchen die fruchtbare Umgebung für ihre Arbeit, die sie Frankfurt und der Welt präsentieren. Naveen reist viel, lädt aber so oft es geht Freunde, Autoren und Verlagsmenschen, nach Kalkutta ein, um ihnen den Mittelpunkt des Seagull Books Universums zu zeigen, in ihrem Indien. Indische Literatur selbst ist aufgrund der stark internationalen Ausrichtung des Verlages wenig im Programm vertreten, jedoch sind Größen wie die Philosophin Gayatri Chakravorty Spivak und die bengalische Schriftstellerin Mahasweta Devi hier zu Hause.

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Der Klassenraum der angehenden Lektoren

Übungen und Masterclasses wechselten sich auch im Juli und August ab ergänzt durch eine Exkursion in eine Druckerei und einen Siebdruck-Workshop mit Printing-Manager Ronnie Gupta.

Das Besondere an diesem Kurs ist meiner Ansicht nach, dass uns eine Innenansicht aller Bereiche dieses und anderer Verlage gewährt wurde. Mit großer Offenheit wurde über Zahlen, Tantiemen, Verträge, schlechte Manuskripte und auch die in Indien allgegenwärtige Zensur gesprochen. Autoren wie Pia Petersen (Frankreich) oder Anita Nair (Indien) erzählten uns von ihren mehr oder weniger holprigen Anfänge, die Suche nach einem geeigneten Verlag, Creative-Writing Kursen und Schreibblockaden. Florence Giry von Gallimard (Frankreich) erklärte uns die unerwartet spannende Welt der Rechte und Lizenzen. Mit Übersetzer Arunava Sinha übertrugen wir Vogelgezwitscher in Text. Preeti Gil sprach mit uns über die Rolle von Literaturagenten. Frauenrechtlerin erster Stunde und Gründerin zweier feministischer Verlage Urvashi Butalia klärte uns über die Situation unabhängiger, kleiner Sparten-Verlage damals und heute auf. Auch Vertreter großer Verlage wurden eingeladen, um deren Strategien mit uns zu teilen. Wir diskutierten mit ihnen über die Notwendigkeit von kommerzieller Unterhaltungsliteratur, die Zukunft des Buchmarktes und die Rolle des indischen Subkontinents in verschiedenen Szenarien. Einblicke gaben uns Thomas Abraham, Managing Director bei Hachette India und Udayan Mitra, Associate Publisher bei Penguin. Gunjan Ahlawat, Head of Design bei Penguin, erklärte uns sein experimentelles Verständnis von Design und präsentierte uns seine Buchcoverkunst für verschiedene Verlage, Genres und Autoren.

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Masterclass im Design-Raum mit Udayan Mitra von Penguin Random House India

In den letzten Augustwochen arbeiteten wir mit Bishan an Manuskripten, die ihm gerade zum Lektorieren vorlagen und lernten schließlich mithilfe von Quarkexpress Bücher zu setzen. Das Erstellen eines Coverbriefs für Designer, das Zusammenfassen des Buches und Klappentexte schreiben rundete die Ausbildung ab, so dass wir am Ende der drei Monate theoretisch in der Lage waren, ein Buch eigenständig zu Lektorieren, mit ein bisschen Übung im Setzen vielleicht…

Was ich außerdem gelernt habe ist, dass der indische Buchmarkt in vielerlei Hinsicht vom amerikanischen oder europäischen unterscheidet. Den 1,2 Milliarden potentiellen Lesern steht eine Alphabetisierungsquote von 70 % und ein niedriges Grundeinkommen gegenüber, was Bücher, vor allem jene, die nicht im Bildungssegment angesiedelt sind, für eine Vielzahl von Menschen zu einem unerschwinglichen Luxusgut macht. Ein Bestseller fängt in Indien daher bei 5.000 verkauften Exemplaren an. Auf der anderen Seite ist die Literaturszene lebendig und divers wie kaum in einem anderen Land. Über 100 Sprachen werden auf dem Subkontinent gesprochen, jedoch wird diese Vielfalt auf den allein in Indien über 80 Literaturfestivals und im Ausland hauptsächlich durch das geschriebene Englisch repräsentiert. International und national erfolgreiche Autoren aus Indien schreiben auf Englisch; das macht den indischen Buchmarkt gerade für europäische Verlage so interessant. Die vielen in ihrer Lokalsprache schreibenden Autoren profitieren davon nicht. Insgesamt gilt der indische Buchmarkt immer noch als sehr unorganisiert; es fehlen beispielsweise statistische Erhebungen über Buchproduktion und Verkaufszahlen. Es gibt jedoch immer mehr Agenten und davon versprechen sich viele in der Branche eine Verbesserung der Organisation und des Verkaufs indischer Buchrechte ins Ausland. Denn Autoren sind der Exportschlager schlechthin, kein anderes indisches „Produkt“ verkauft sich so gut.

Group Picture
Tanvee, ich, Sonaksha, Soumi und Sarah (v. li. n. re.)
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Es kann kein schöner gestaltetes Zeugnis auf der Welt geben…

Schon vor dem Kurs begeisterte ich mich neben dem Lektorat auch für den Vertrieb. Jetzt finde ich auch Rechte und Lizenzen und die Arbeit eines Literaturagenten spannend und würde gern intensiver das Handwerk des Buchdesign und Typesetting lernen. Diese drei Monate in Kalkutta haben in vielerlei Hinsicht meinen Horizont erweitert und die Seagull School of Publishing macht einen fantastischen Job. Sie zeigt jungen Menschen einen Weg in die Buchwelt, ob als Designer, Lektor, Übersetzer oder Autor. „Wir sind sehr gute Mentoren und noch bessere Netzwerker“, gab Naveen Kishore uns zum Abschied mit auf den Weg. Was bleibt ist der Eindruck von inspirierenden Verlagsmenschen, die uns ihren Beruf erklärt haben, der ausnahmslos für jeden von ihnen vor allem eines ist: Berufung.

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Abschlussfoto des Jahrgangs Sommer 2016 mit unseren Lehrern Bishan (1. v. rechts vorne) und Sunandini (3. v. rechts hinten)

Weitere Infos über das Verlagsprogramm, die Aktivitäten des Seagull Universums und den School-Blog mit Beiträgen anderer Studierender findet ihr auf folgenden Seiten:

http://www.seagullbooks.org/

http://www.seagullindia.com/

https://theseagullschool.wordpress.com/

 

*Der Beitrag wurde am 9. und 18. September 2016 auf der Homepage des Netzwerks Junge Verlagsmenschen veröffentlicht. Hier findet ihr Teil 1 & Teil 2.

 

 

 


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